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Der Künstler in der Isolation

Ein Kompositionsprojekt in sechs Kapiteln

von Torsten Kamps


Die Motivation zum kreativen Erschaffen kommt in großen Teilen aus einem Sog von außen. Es ist ein Mitteilungsbedürfnis der inneren Vorgänge. Die eigenen Gedanken sortieren, aufschreiben oder modellieren, in Töne verwandeln oder in Bilder. Kunst ist eine Form der Kommunikation mit der Außenwelt. Die entstandenen Werke sollen gesehen, gehört, gelesen werden. Erst durch die Reaktion des Publikums wird es zur Kommunikation. Ohne Feedback ist es eine Einbahnstraße.

Wie kommt man nun als Künstler damit klar, wenn plötzlich dieses Feedback verstummt? Jeder kreativ Arbeitende kennt die Situation: wenn wirklich viel zu tun ist, sprudeln die Ideen. Wenn man nur mehr Zeit dafür hätte! Hat man plötzlich Zeit, entsteht ein großes Loch. Die eigene, einzelne Stimme in einem leeren Raum, ohne Antwort. Es fühlt sich sinnlos an zu lächeln, wenn niemand zurück lächelt. Der Kopf ist zwar voller Ideen, aber sie wirken jetzt belanglos, wenn keiner etwas davon hören will oder kann. Man spricht, aber niemand antwortet. Wie verändert sich dadurch die eigene Gedankenwelt?

Aus dieser Situation heraus entstand die Idee zur Auseinandersetzung mit der Stimme. Was passiert, wenn man nur noch seine eigene Stimme hört? Kann sie ein Gegenüber ersetzen, wenn man sie aufnimmt, mit ihr spielt, sie verändert, sich die Veränderungen anhört und wieder darauf reagiert?


Eine Stimme


Die sechs Kompositionen nutzen nur eine einzige Klangquelle: die Stimme der Sängerin Andrea Paredes Montes.

Ungewöhnlich an diesem Projekt: alle Vokalaufnahmen fanden statt, noch bevor komponiert und arrangiert wurde. Vorhanden waren lediglich konzeptionelle Grundideen und Texte, bzw. Textfragmente. Die Stimme wurde in mehreren mehrstündigen Aufnahmesessions aufgenommen, im Computer gesampelt und so bearbeitet, dass die Klänge von einer Klaviatur aus spielbar wurden. Damit stand eine Art Aufnahme-Pool für die Kompositionsarbeit zur Verfügung. Durch die elektronischen Möglichkeiten wurde der Stimmumfang erweitert, so dass auch extreme Bass- und Sopran-Lagen erreichbar wurden. Zum Teil wurden die Klänge auch komplett verformt, gefiltert, in kleine Schnipsel zerlegt und neu zusammengesetzt, verhallt oder rückwärts abgespielt. Andrea Paredes Montes hat gesungen, gesummt, gehaucht, geschrien, geschnauft, gelacht, geflüstert und gemurmelt. Laute, Worte und Texte hat sie in etlichen verschiedenen Stimmungen, Tonhöhen und Lautstärken gesprochen, Noten mit und ohne Vibrato mit verschiedenen Vokalen aufgenommen. All das nur zu einem rhythmischen Metronom-Klick und Piano-Referenztonhöhen in ihrem Kopfhörer, ohne einen musikalischen Kontext. Respekt!

Jeder Klang oder Ton in diesem Projekt besteht ausschließlich aus den Aufnahmen dieser einen Stimme.

Die Kompositionen sind experimentell, aber nicht atonal. Es sind keine "Songs" oder "Lieder" im herkömmlichen Sinne, daher heißen sie Kapitel.

Dieses Projekt wurde gefördert durch ein Arbeitsstipendium der Hessischen Kulturstiftung.

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